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Radio kann mehr als Klopapier

Radio begeistert mich seit der 7. Klasse – weil ich seitdem selbst hinter dem Mikro stehe, die Fader ziehe, die Musik aussuche, mit Menschen rede etc. und doch finde ich es zum Kotzen.

Oh nein, nicht schon wieder so ein Formatradio ist doof Artikel. Formatradio ist super, was sollte es auch sonst anderes geben? Ein Radio ohne Format ist wie ein Schokokuchen, den man statt in den Backofen ins Kühlfach stellt: ein undefinierbarer Brei mit ein paar Schokostückchen. Der fehlende Mut, der nicht vorhandene kreative Idealismus, die (Nachkriegs-) Medienpolitik auf Landesebene und die Hörerbindung auf Grundschulniveau sind für mich die Hauptprobleme in der deutschen Radiolandschaft: nichts weiter als MusikAldis und InformationLidls – jede Woche ein neues Sonderangebot bis es auch der letzte gehört hat.

Ein Gedanke reicht nicht. Es braucht auch einen Hintern, der sich bewegt

Bei meinen diversen Praktika in der bayerischen Radioszene und aus meinen Begegnungen mit Radiomachern höre ich zwar zwischen den Zeilen Ihre Ideen und Wünsche genauso wie die zerstörte Hoffnung aus „es ist kein Geld da“ und „damit verdienen wir halt das Geld“. Aber probiert sich jemand an neuen Talkformaten zur Mittagszeit, Musiksendungen und Late-Night am Abend oder Hörspielproduktionen aus? Live-Übertragungen von Konzerten, Live-Sendungen aus WGs, der Fußgängerzone, dem öffentlichen WC am Hauptbahnhof oder gar an Aufnahmen von Straßenmusikern aus? Gibt es eigene Schulbandcontests in der Großstadt, eigene Musikveranstaltungen? Gibt es Hörerlesungen mit ihren Erlebnissen, Abenteuern, eigene Kochsendungen etc.? All das wären je nach Ort sinnig oder unsinnig wunderbar einfache Mittel, Hörern und damit Kunden nahe zu sein – keine technische Geldverschwendung in irgendwelche WhatsApp Services, keine App Programmierungen, keine voll-automatisierten Studiosysteme, die anhand des Wetters das Sendestudio in die entsprechende Farbe tauchen oder die letzten Hörerstatistiken zur Musikbegeisterung direkt in den Sendeplan integrieren. Keine Statistik, keine Agentur und kein Mitarbeiter wird jemals erfahren, wo die Hörer sind und wie sie abgeholt werden möchten, wenn es im Alltag der Radiomacher nur für Straßeninterviews zum letzten Dult / Karneval / Plärrer Besuch reicht. Radio ist mehr außer Alltagsklischees und Kalenderfeste, aber um das umzusetzen, braucht es Mut. Geld? Haben Radiosender keine Mischpulte und Aufnahmegeräte mehr?

Verkaufen wir doch auch Klopapier!

Im Wort Idealismus fehlt zwar der Bestandteil Geld verdienen – heißt es zumindest, aber erst aus ungewöhnlichen Ideen entstehen Ansätze für neues Kapital. Andererseits hat es etwas mit Authentizität zu tun: Ein Radiosender, der die am erfolgreichsten empirisch getestete Musikschleife spielt, hat zwar den größtmöglichen Hörerkreis, aber auch die geringste Chance, dass sich viele Hörer wirklich mit diesem Produkt identifizieren können. Der Sender ist damit so gewöhnlich wie eine Klobürste und doch genauso unnötig, denn vielleicht gibt es ja bald ein Klo, das sich selbst reinigt.

Geht es nicht genau darum beim Geld verdienen innerhalb eines Marktes – um Zielgruppen? Ich erkenne beim größtmöglichen Hörerkreis mit dem besten Musikmix von heute keine Zielgruppe außer eben alle ein bisschen, aber keiner wirklich. Vergleich Internet: Klare Zielgruppenvorgabe, klare demographische und interessenbasierte Segmentierung. Und dafür brauchen wir erst Facebook und Co um solche grundlegenden marktwirtschaftlichen Prozesse wirklich auf Werbekundenseite neu zu etablieren? Ich dachte immer, dass genau die traditionelleren Medienbetriebe mehr Erfahrung im Lokalen hätten als eine Datenbank, was ein unschätzbarer Vorteil für Werbetreibende wäre. Da bringen die besten Musikresearches und die aktualisierte demographische Struktur in den Befragungstabellen der Arbeitsgemeinschaft Media Analyse nichts, wenn am Ende kein Produkt vorhanden ist, das eine klare Zielgruppe definieren kann außer die unentschlossene Mehrheit zwischen 30 und 50 Jahren. Dabei demonstrieren uns die trendigen Portale im Netz: die Leute wollen ihr Ding – der Drang nach Personalisierung ist dabei nur die radikale kleine Schwester, die noch gern jede Woche in die Disko zum Tanzen möchte und das für die tollste Sache der Welt hält. Aber wenn man älter wird, freut man sich nach einem acht Stunden Arbeitstag eher auf einen Sender zum Einschalten als eine Playlist zum Suchen.

Nischen brauchen Reichweite

Die Milchmädchen Rechnung ist ganz einfach: für Special Interest Programme wie Jazz, Klassik oder Talk braucht es die technische Voraussetzung, um möglichst viele Hörer erstmal technisch erreichen zu können. Bei den klassischen Radiosendern über UKW sind das die Frequenzen: Klassik Radio zum Beispiel hat Frequenzen in den meisten deutschen Städten, um möglichst viele Klassikliebhaber erreichen zu können. Nur so schaffen sie es, auch eine Werbeplattform bieten zu können. Dieses Modell ist allerdings nur für wenige Sender deutschlandweit zulässig, da es rechtlich gar nicht anders geht: Die Bundesländer haben bei Frequenzen das Sagen, daher gibt es die Landesmedienanstalten, die sich u.a. um solche Belange kümmern – was historisch eben so gewachsen ist. Bevor sich also diese Gesetzgebung in irgendeiner Art und Weise ändert, hört vermutlich der Großteil der Deutschen über das Internet Musik oder vielleicht noch Radio.

Im Internet? Da braucht es keine Frequenzen mehr? Richtig, aber da müsste man sich erstmal gegen die tausenden anderen kleinen Stationen behaupten können und viele Kooperationen eingehen, ausprobieren, tüfteln, investieren. Der Mut, das Geld, die Zeit, das Know How ist dafür in den Sendern nicht vorhanden. Dabei ist die letzte Bastion, die das Radio noch für sich entscheiden kann, bedroht: Viele Menschen hören täglich auf dem Weg in die oder von der Arbeit Radio – gerade im Auto. CDs zu brennen, kostet Zeit und ist viel zu aufwendig, Kassetten sind was für Retro Hipster und meinen USB-Stick vergesse ich auch regelmäßig aus dem Auto mitzunehmen und neue Lieder zu suchen. Genau deswegen hat mein Vater (61) jetzt einen neuen Opel gekauft, der ein komplett eigenes Media Center hat, das er über sein Handy oder direkt im Auto einstellt und während der Fahrt oder zuhause per WLAN werden Playlists, Lieder etc. bereit gestellt – im Prinzip wie Spotify im Auto, nur eben integriert wie das gute alte Radio. Wie und warum das technisch funktioniert, weiß ich nicht genau, aber mein Vater ist glücklich damit – der mit 3 Programmen im TV aufgewachsen ist. Wenn jetzt noch ein findiger Mensch auf die Idee käme und Podcasts zu verschiedenen Themen produzieren würde, die dann automatisch mit in die Musik gestreut würden oder automatische Ansagen zur aktuellen Verkehrslage gemacht würden… aber nein, das halten Sie bestimmt auch für unwahrscheinlich.

Ich fände es schade, wenn die Radiostationen weniger und Spotify Apps mehr. Denn das Menschliche, das immer eine große Domäne des Radios war, ginge verloren: die Situation, das Spontane, das Jetzt, die Persönlichkeiten. Das kann keine App jemals abbilden – das passiert im kleinen Küchenradio während man gedankenverträumt die Küche aufräumt. Ich hoffe, dass es bald wieder etwas mehr Träumer und Ausprobierer wie mich im Radio gibt, denn einer Illusion sollte man sich nicht hingeben: es liegt jetzt an den Sendern potentiellen Hörern zu zeigen, dass es noch richtiges Radio abseits der besten Musik von heute gibt – denn genau das ist es, was viele mit Radio verbinden: Ein bisschen Audiobrei fürs Auto. Musik gibt es woanders.

Benjamin Hartwich

Benjamin Hartwich, M.A. Medien- und Kommunikationswissenschaften. Privat betreut er mehrere Webprojekte, bloggt und podcastet. In seiner Freizeit gestaltet er seinen eigenen Webradiosender. Mit 14 Jahren hat er ein Schulradio in Augsburg aufgebaut. Neben dem Studium arbeitete er 6 Jahre beim Campusradio Campus Crew als Moderator, Technikleiter, Musikchef und Programmchef mit.

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